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11.06.2024

Ein neues Forschungsprojekt zum Krankenrevier des KZ Neuengamme

Zeichnung eines Holzgebäudes  vor dem Personen stehen.
„Le revier des grands malades“ (Das Krankenrevier für Schwerkranke), 30.8.1944.

Am 1. Juni 2024 hat ein vierjähriges Forschungsprojekt zu Medizin im KZ Neuengamme und seinen Nachwirkungen bei der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte begonnen. Gefördert wird das Projekt durch die Jung-Stiftung für Wissenschaft und Forschung.

Krankheit und Sterben war in den Konzentrationslagern alltäglich und allgegenwärtig. Zentraler Ort zum Umgang mit kranken KZ-Häftlingen war das Häftlingskrankenrevier. An diesem Ort lassen sich zum einen die Phasen der Lagergeschichte abbilden. Über die Minimalversorgung der KZ-Häftlinge in der Anfangszeit, den Umgang mit hochansteckenden Krankheiten mit der Zunahme der Häftlingszahlen Anfang der 1940er Jahre bis zur Rationalisierung und Ökonomisierung der Krankenversorgung in den letzten Kriegsjahren können anhand der Krankenreviere die Entwicklungslinien der Konzentrationslager nachgezeichnet und um neue Aspekte und Fragestellungen ergänzt werden.

Zum anderen zeigt sich in den Krankenrevieren eine weitere Radikalisierung der NS-Gesellschaft: So wurden an KZ-Häftlingen medizinischen Experimenten durchgeführt oder kranke, vermeintlich nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge selektiert und gezielt ermordet.

Durch die relative Eigenständigkeit der medizinischen Abteilung im Gefüge der Konzentrationslager und dem hohen Grad der Selbstorganisation der dort als Pfleger und Ärzte eingesetzten Häftlinge waren die Krankenreviere Orte, an denen eine Vielzahl von Informationen über den Lageralltag zusammenkamen. Durch den Schutz vor schwerer körperlicher Zwangsarbeit konnten diese Häftlinge persönliche Aufzeichnungen retten und in der Nachkriegszeit Zeugnis ablegen. Wichtige Informationen zum Funktionieren der Konzentrationslager und zum System nationalsozialistischer Massenverbrechen wurden so konserviert.

Auch im Fall des KZ Neuengamme sind die Berichte der im Krankenbau eingesetzten Häftlinge von großer Bedeutung. Gleichwohl sind viele Themenbereiche bisher noch nicht umfassend aufgearbeitet. Oft blieb in Forschungsarbeiten das Krankenrevier unbeachtet. Auch fehlen umfassende Recherchen und eine wissenschaftliche Aufarbeitung der als Pfleger und Ärzte eingesetzten Häftlinge. Eine Publikation zu den in Neuengamme tätigen SS-Ärzten steht ebenfalls noch aus.

Wissenschaftliche Publikationen und ein thematisches Konzept für die Dauerausstellung

Zu Beginn des Projektes stehen daher Grundlagenforschung zum Krankenrevier, zu Medizin im KZ Neuengamme sowie der Nachgeschichte und den Nachwirkungen im Leben der überlebenden Häftlinge. Im Verlauf des Projektes ist eine wissenschaftliche Studie zur medizinischen Abteilung des KZ Neuengamme geplant.

Zudem soll ein inhaltliches Konzept zum Thema Medizin im KZ Neuengamme für die neue Dauerstellung der Gedenkstätte entstehen sowie konkrete Ausstellungsmodule erarbeitet werden. Für das Forschungsprojekt ist Anett Dremel seit dem 1. Juni 2024 verantwortlich. Sie war zuvor unter anderem Leiterin der Dokumentationsstelle der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und Kuratorin für die Dauerausstellung der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel.

Dr. Sven Fritz erstellt eine weitere wissenschaftliche Publikation zu den SS-Ärzten des KZ Neuengamme. Er ist ausgewiesener Forscher zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner völkischen Wurzeln: Er arbeitete unter anderem als Rechercheleiter und Co-Autor des Forschungs- und Ausstellungsprojekts „Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der ‚Juden‘ aus der Oper 1933-1945“ sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der  Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg und promovierte mit einer Biografie von Houston Stewart Chamberlain, dem völkischen „Vordenker“ und Stichwortgeber der NS-Ideologie.

Portraitfoto einer Frau mit kinnlangen Haaren
Anett Dremel
Portraitaufnahme eines Mannes mit blonden Haaren im blauen Hemd
Sven Fritz